Die ärztliche Schweigepflicht ist umfassend. Es gibt aber eine Reihe von Fällen, in denen sie weniger weit reicht als man vielleicht denkt. Einer dieser Fälle ist ein ärztliches Attest zur Vorlage bei Gericht, in dem die Verhandlungs- oder Vernehmungsunfähigkeit eines Beschuldigten oder Zeugen bescheinigt wird.
Wer an einem Gerichtstermin nicht teilnehmen kann – egal ob als Partei, Zeuge oder Beschuldigter – braucht ein ärztliches Attest, um die krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit nachzuweisen. Sonst drohen in allen gerichtlichen Verfahren rechtliche Nachteile, die von der Anordnung eines Zwangsgeldes bis zur Verurteilung in Abwesenheit reichen können. Wird ein Attest vorgelegt, so hat das Gericht zu entscheiden, ob es die geladene Person tatsächlich für verhandlungsunfähig hält. Häufig hat das Gericht noch Fragen. Darf der Arzt, der das Attest ausgestellt hat, diese Fragen des Gerichts beantworten oder muss er auf seine Schweigepflicht verweisen?
Diese Fragestellung ist für alle Beteiligten relevant. Für den Patienten, weil das Gericht aufgrund der ergänzenden Auskünfte, die der Arzt dem Gericht erteilt hat, möglicherweise doch nicht von Verhandlungsunfähigkeit ausgeht oder sonst Informationen erhält, die der Patient dem Gericht nicht zukommen lassen wollte. Für den Arzt, weil ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht eine Straftat ist. Das OLG Frankfurt hat sich in einem Beschluss vom 19.05.2005 (Az. 3 Ws 405/05) zu diesen Fragen geäußert. Hintergrund war eine Strafanzeige, die ein Patient gegen seinen Arzt gestellt hatte. Der Arzt hatte ein Attest über die Verhandlungsunfähigkeit des Patienten für einen Termin beim Familiengericht erstellt. Das Gericht hatte beim Arzt nachgefragt und von ihm weitere Auskünfte erhalten. Aufgrund dieser Auskünfte kam das Gericht dann zu der Auffassung, dass der Patient doch verhandlungsfähig war und entschied den Rechtsstreit zu seinen Ungunsten durch Versäumnisurteil.
Der Patient stellte daraufhin Strafanzeige wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht gegen den Arzt. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen aus Rechtsgründen ein. Dieser Entscheidung schloss sich die Generalstaatsanwaltschaft an. Dagegen führte der Patient ein Klageerzwingungsverfahren durch, in dem das OLG Frankfurt zu entscheiden hatte. Das Oberlandesgericht begründet in seiner Entscheidung, warum die ergänzenden Auskünfte, die der Arzt dem Gericht erteilt hat, keine Verletzung der Schweigepflicht darstellen: Es sei Aufgabe der Partei, des Zeugen oder des Beschuldigten, dem Gericht seine Verhandlungsunfähigkeit nachzuweisen. Um diese Pflicht zu erfüllen, entbinde er den Arzt von der Schweigepflicht. Diese Entbindung von der Schweigepflicht beschränke sich aber nicht auf das Attest und seinen Inhalt, sondern umfasse alle Informationen, die für das Gericht für die Frage der Beurteilung der Verhandlungsunfähigkeit relevant sind. Wenn der Arzt beauftragt wird, die Verhandlungsunfähigkeit zu attestieren, wird ihm damit unausgesprochen auch erlaubt, ergänzende Fragen des Gerichts zu beantworten. Deshalb stellten die ergänzenden Auskünfte des Gerichts keine Verletzung der Schweigepflicht dar und aus diesem Grund hat sich der Arzt nicht strafbar gemacht.
Dass dieser Fall kein Einzelfall ist, zeigt der Beschluss des OLG Karlsruhe vom 28.10.1993 (Az. 3 Ws 154/93, veröffentlicht in NStZ 1994, 141), in dem ebenfalls über eine Strafanzeige einer Patientin gegen ihren Arzt wegen ergänzender Auskünfte des Arztes an ein Gericht entschieden worden war. Um diese Konfliktlage zu entschärfen, empfiehlt die Ärztekammer Hamburg Ärzten, sich bei Ausstellung solcher Atteste ausdrücklich für weitere Nachfragen des Gerichts von der Schweigepflicht entbinden zu lassen.
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